Berührende Erlebnisse in einem Buch, das hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt

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Abwechslungsreiche Mischung von Zeitzeugen in „Ein Sommer, wie seither kein anderer“

Eine abwechslungsreiche Mischung von Zeitzeugen bieten Hauke Goos und Alexander Smoltczyk in ihrem Buch „Ein Sommer, wie seither kein anderer“ – auch wenn deutsche Perspektiven überwiegen. Vom Hauptmann in der Roten Armee, Nikolaj Pudow, der beim Sturm auf Berlin dabei war, bis zu Persönlichkeiten der deutschen Zeitgeschichte wie Armin Müller-Stahl und Jochen Vogel: alle Befragten blicken persönlich und individuell auf ihren Sommer 1945 zurück.
Um es vorwegzunehmen: Lesenswert, kaufenswert, unterhaltsam, spannend und nicht sehr herausfordernd – durch die Kürze und den Abwechslungsreichtum in den erlebten Geschichten, die Goos und Smoltczyk zusammengestellt haben. Es hat etwas von einer Collage, was die Lektüre kurzweilig aber auch etwas flatterhaft macht.


Laufband am oberen Ende und Farbfotos

Mit einem durchgängigen Laufband am oberen Ende und mit Farbfotos in der Buchmitte angereichert, kommt das Buch weithin locker daher. Was es für das Verständnis des Sommers 1945 bringt, eine Edzard Reuter in seiner geschmackvollen Wohnung oder Martin Walser vor einer Bücherwand im Jahr 2022 abgelichtet zu sehen, bleibt allerdings unklar.
Auch werden im Laufband lediglich die Inhalte der Berichte wiederholt, teils ein wenig ergänzt und quasi als Zeitleiste präsentiert. Eine Zeitleiste soll ja Ordnung bringen und die Übersicht erleichtern. Hier lenkt es eher ab und bleibt redundant.
Auch sind die Texte einerseits von den Autoren/ Zeitzeugen verfasst, eingereicht und redigiert, andererseits in persönlichen Gesprächen mit Nachbearbeitung entstanden. Es sind Ich-Erzählungen im Stile eines Tagebuchs oder regelrechte Interviews, auch Besuche im Hause der Protagonisten, die fast schon etwas reportagehaftes haben. In diesen Momenten wird es besonders spannend. Wenn auch die Frau des Hauptmannes (eine KZ-Überlebende) am Kaffeetisch eingreifen kann, ihren Mann berichtigt und ergänzt. Warum wurde das nicht durchgängig so persönlich-authentisch gehandhabt?
Lebenserinnerungen als Tagebuchaufzeichnungen, Reportagen vom Wohnzimmertisch aus und strenge Frage-Antwort-Interviews. Warum uns die bunte Mischung angeboten wird, ist nicht ganz ersichtlich. Wie insgesamt das Konzept unklar wirkt.

Rezension Sommer wie kein anderer

Lebenserinnerungen als Tagebuchaufzeichnungen, Reportagen vom Wohnzimmertisch aus und strenge Frage-Antwort-Interviews.

Konzept und die „Oral History“
In ihrem Nachwort gehen die Herausgeber auf ihr Konzept ein und erwähnen auch die „Oral History“. Sie verstehen sie allerdings recht oberflächlich. Auch persönliche Erzählungen dürfen eingeordnet und begleitet und ergänzt werden und das lässt das – ansonsten verdiente Buch – vermissen.
Heraus sticht der letzte Artikel von Alexander Kluge – in Länge und Layout. Was ihn gegenüber allen andere Zeitzeugen heraushebt, bleibt unklar. Die Zeitleiste endet bei ihm und der gesamte Umbruch des Buches wird mit seinem Interview aufgebhoben.
Aus Sicht eines Historikers – Goos hat Geschichte studiert – bleibt das Konzept ein wenig wackelig über die gefällige Anordnung hinaus. Denn was es für eine Gewinn bringt, eine Zeit mit fast 80 Jahren Abstand zu beleuchten, anstatt aussagekräftige Zeitzeugenberichte ohne zeitliche Verzögerung zusammenzustellen, das stellen selbst die Herausgeber und auch die Interviewten in Frage.
Edgar Reitz: „Jetzt, in der Corona-Abgeschiedenheit, schreibe ich meine Autobiografie, das ist also quasi eine zweite Welle der Fiktionalisierung meines Lebens.“ (S. 165)

Es hätte etwas tiefer gehen können

Auch den Herausgebern ist der Spagat bewusst: „Es bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen, welche Form des Erinnerns ihnen mehr über diese Zeit mitteilt: die Notiz des gelebten Tages oder die in einem Menschleben gereifte Erinnerung des Alters.“ (S. 225/6)
Hier hätte es tiefer gehen können, denn über die reine Wiedergabe des Geschehenen wird es – wie immer – bei der Wertediskussion erst richtig interessant. Das hätten die Interviewten mit dem Abstand alle leisten können, die ja schließlich damals zum größten Teil im Kinder- oder heranwachsenden Alter waren, ohne Überblick oder Entscheidungsgewalt über sich, geschweige denn ihre Umwelt.
Den größten Vorteil, den die recht frei Form geboten hätte, die die Herausgeber wählten, nutzen sie leider nicht. Sie hätten ergänzen, erklären, einordnen können (oder das noch intensiver von den Autoren selbst und ihren (Hi)stories einfordern können) und so dem Leser der heutigen Zeit geholfen, den zeitlichen Abstand zu überwinden. Die Historizität, Veränderbarkeit oder auch Ähnlichkeit zu unserer Zeit, hätte das helfen können, zu begreifen.
Denn sie erklären einiges, lassen aber genau dann die Chance ungenutzt, wenn der geneigte Leser Hilfe braucht und Orientierung (Orientierung war ja offenbar ein Ziel des Buches, was durch den Zeitstrahl deutlich wird): Nikolai Pudow spricht von Faustpatronen (S. 33), es wird die Kwantung-Armee erwähnt (S. 39), die den Wenigsten geläufig sein dürfte. An solchen Stellen bleiben Fragezeichen und die Begriffe unerklärt.
Dass es gerade nicht Berühmtheiten oder bekannte Namen (was kann eine Dame, die acht Jahre nach dem Sommer 1945 einen späteren Bundespräsidenten heiratet mehr zum Thema beitragen als eine Dame weniger bekannten Namens?), sondern die Geschichten sind, die bewegen und berühren, zeigt Irmtraud Folgner. Sie wurde 1945 von Vater und Mutter an den Onkel übergeben, wissend, dass er sie vergewaltigt. Es ging um eine Essensration und Wohnrecht in einer ansonsten zerstörten Stadt im Sommer 1945. Irmtraud Folgner war damals 11 Jahre alt.
Einige Aspekte bleiben leider unbeachtet oder ungenutzt, insgesamt ist es ein journalistisches, unterhaltsames, lesenswertes Buch.

Hauke Goos und Alexander Smoltczyk: „Ein Sommer wie seither kein anderer“
Wie in Deutschland 1945 der Friede begann – Zeitzeugen berichten.
Ca. 240 Seiten /Gebunden mit Schutzumschlag
24,00 Euro DVA Verlag 2021