Thomas H. A. Becker

„Wer waren die Nationalsozialisten?“ Rezension

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Lohnt sich die Anschaffung? Leider nein. Ulrich Herberts: „Wer waren die Nationalsozialisten?“

Ulrich Herberts: „Wer waren die Nationalsozialisten?“ erschienen bei C.H. Beck; 3. Auflage 2021. 303 Seiten. Der Titel suggeriert eine Antwort auf die Identitätsfrage der Deutschen: Wer waren die Nazis (und inwieweit bin ich möglicherweise mit ihnen persönlich verbunden?). Ganz klar: Diesen Anspruch erfüllt das Buch nicht. Man ist sich zwischendurch nicht einmal sicher, welchen Anspruch der Autor beim Zusammenstellen seiner Texte im Kopf hatte.

Herbert setzt Themen, die er konsequent unbeantwortet lässt

Im fünften („Der deutsche Professor im Dritten Reich“) von insgesamt elf Kapiteln bringt er das Grundproblem seines Buches selbst auf den Punkt: „So erweist sich die Frage nach dem deutschen Professor im Dritten Reich als zu eng“ (S. 131). Was hier gilt, gilt für das gesamte Buch: Herbert setzt Themen, die er konsequent unbeantwortet lässt. Weil die Frage zu eng ist. Oder zu weit.
Auch stehen die Kapitel unabhängig, man kann auch sagen beziehungslos nebeneinander. Sie sind eine Sammlung von Beiträgen von 1995 bis 2020, die „[…] auf die allmähliche Herausbildung von Thesen in der Auseinandersetzung […] mit Kollegen verweisen.“ Und in ihnen „[…] gibt es einige Redundanzen und Überschneidungen“, wie das Vorwort selbst einräumt.
Warum sich der Autor mit diesem Buch beim Gewinnen seiner eigenen Einsichten bespiegeln möchte, wird nicht deutlich. Der Gewinn bleibt zweifelhaft, zumal auch ein Großteil der Texte diesen Prozess der Erkenntnisgewinnung überraschenderweise gar nicht abbildet.

Passagen wiederholen sich innerhalb der Kapitel wortwörtlich. Tatsächlich aber wiederholen sich manche Passagen innerhalb der Kapitel wortwörtlich. Wenige Rechtschreibfehler und die komplette Unschärfe beim Zitieren lassen die Zusammenstellung und Redaktion als nachlässig erscheinen.

Anführungszeichen

Der Umgang Zitaten ist beispielsweise inkonsequent. Der Autor setzt die Propagandasprache des NS (Victor Klemperers „LTI“) nicht durchgängig in Anführungsstriche, um sich davon zu distanzieren. So kommt es vor, dass der angebliche „Blutquell der Nation“ (S. 194) ohne angezeigte Distanzierung von der ideologisierten Sprache übernommen wird, während „Luftschlacht um England“ und „Ostraum“ kurz zuvor in Anführungsstriche gesetzt werden. Weit schwerer wiegt, dass er durch Anführungsstriche gekennzeichnete Zitate teils nicht mit einer deutlich nachvollziehbaren Quelle versieht.

Stärken

Stärken sind in der Detaildichte zu erkennen, wenn Herbert zum Fall Barbarossa die Rolle Himmlers darstellt und in wenigen Sätzen drei historische Diskurse und die innewohnende Wertediskussion verbinden kann (S. 192/3). Hier wird es dann auch für den Geschichtslehrer interessant.
Auch wenn er die ideologischen Maßgaben der Führungselite umgesetzt in Handlungsanweisungen, Befehlen und Richtlinien zeigt, macht er das Dritte Reich in seiner Konsequenz erlebbar, mit Quellen identifizierbar und für einen möglichen Einsatz im Unterricht wertvoll. (S. 193-199)
Um als Lehrer zu sprechen: Der Autor hat mit dieser Textsammlung die Aufgabenstellung verfehlt und die (selbst gewählte!) Frage eigentlich schon im ersten Kapitel mit wenigen aber präzisen und entscheidenden Fakten beantwortet.

Das erste Kapitel hat 26 Seiten und trägt übrigens die Überschrift „Wer waren die Nationalsozialisten?“.

Wozu die restlichen Seiten dienen sollen, bleibt – jedenfalls unter dieser Fragestellung – oft unklar.