Thomas H. A. Becker

Von den Welfen und dem Jägermeister

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Wolfenbüttel: eine Reportage aus der Kleinstadt in Niedersachsen

Wolfenbüttel: Geist im Buch und Geist in der Flasche

In die norddeutsche Tiefebene, zwischen Landeshauptstadt Hannover und Harz, duckt sich eine unscheinbare Mittelstadt: Wolfenbüttel. In der niedersächsischen Provinz gelegen, mit fünfzigtausend Einwohnern, offenbart die alte Herzogstadt ihren Charme bei einem Spaziergang erst Stück für Stück, dann aber umso intensiver. Bei guter Sicht thront der sagenumwobene Brocken – die höchste Erhebung Norddeutschlands mit rund 1100 Metern Höhe – in der Ferne weit über der Stadt. Sandsteinkirchen und rote Dachpfannen tupfen bunt die hügelige Landschaft um Elm und Asse mit ihrem sorgfältig bestellten Ackerland. Die Gegend ist vor allem landwirtschaftlich geprägt. Am warmen Frühsommer-Samstag pilgern die Bauern des Umlandes auf den gepflasterten kleinen Marktplatz vor dem Fachwerk-Rathaus.

Idylle zwischen Blumenrabatten und Renaissancehäusern

Unter Blumenrabatten, zwischen windschiefen und kunterbunten Renaissancehäusern, findet der Wochenmarkt statt. Heute bei den Kunden besonders begehrt: das berühmte „Edel-Gemüse“ der Gegend: Spargel – glänzend weißlich-beige liegt er, ordentlich aufgereiht, nach Dicke auf dem fast zehn Meter langen Marktstand von Klaus Hacke.

Spargel ist Detailarbeit, sagt Klaus Hacke, Bauer aus Langlingen.

Geist im Buch: Herzog August Bibliothek, Lessing

Die fünfzigtausend Einwohner Stadt nennt sich auch die „Lessingstadt“. Der Dichter der Aufklärung verbrachte die letzten elf Jahre seines Lebens hier und schrieb seine berühmtesten Werke „Nathan der Weise“, und „Emilia Galotti“. Als er vor rund 250 Jahren über diesen Markt schlenderte, sah der kaum anders aus. Denn die Altstadt ist nahezu in dem Zustand, in dem Lessing sie im 18. Jahrhundert erlebte: Keine Kriegsverwüstungen, kein Großbrand und auch nicht die Architektur des 20. Jahrhunderts konnten dem Erscheinungsbild größeren Schaden zufügen. Das Flüsschen Oker schlängelt sich durch verwinkelte Gässchen mit roten Dachschindelwäldern, windschiefen Mittelalter-Ensembles, vorbei an einer umgebauten Wassermühle – die Innenstadt hat viele idyllische Eckchen.

Welfen in Wolfenbüttel: Hauptkirche, Holzschloss vor den Toren der Stadt

Auch der Markt wirkt wie aus der Zeit gefallen mit Sommerblumen, dem würzigen Geruch der Würstchenbude, vor dem Fachwerk-Rathaus ein Springbrunnen mit Reiterdenkmal, das Herzog August den II. zeigt. Sein Herrschergeschlecht, die Welfen, haben Wolfenbüttel entscheidend geprägt. Das wird deutlich bei einem Besuch in der Familien-Gruft in der Hauptkirche, nur eine Gehminute Richtung Süden vom Marktplatz entfernt.

Reiterdenkmal vor dem Rathaus, das den Welfen Herzog August den II. zeigt.

„Wir können durchaus sagen, das Wolfenbüttel ohne die Welfen nicht das wäre, was es heute ist,“ sagt Doktor Sandra Donner, Leiterin der historischen Museen in Wolfenbüttel, die vor dem wuchtigen Doppelsarkophag Anton Ulrichs aus Zinn steht. Reich verziert mit Löwen, Hirschen und dem Wappen der Welfen. Am Kopfende ein Kreuz, das über der Ruhestätte der Eheleute thront. „Die Welfen haben Wolfenbüttel zur Residenzstadt gemacht im 15. Jahrhundert. Und damit war 300 Jahre lang Wolfenbüttel ein wichtiges kulturelles Zentrum in Norddeutschland. Aus dieser Zeit stammen das Schloss, die Herzog-August-Bibliothek, die Hauptkirche, die Gruft, in der wir uns befinden. Wir sind ihnen ganz dankbar, dass sie 300 Jahre hier waren!“

Barocke Bockigkeit: Rom, Paris, Florenz – und Wolfenbüttel

Und ein Welfe gründete vor mehr als vier Jahrhunderten die damals größte Büchersammlung Europas, die heutige Herzog August Bibliothek. Das einst teuerste Buch der Welt ist hier zu sehen: das Evangeliar Heinrichs des Löwen aus dem 12. Jahrhundert – ein prachtvolles Meisterwerk mittelalterlicher Buchmalerei. Die hochfliegenden Pläne kannten kaum eine Grenze – einst strebte die Kleinstadt nach einem Namen gleichberechtigt mit Rom, Paris, Florenz: Herzog Anton Ulrich wollte mit barocker Bockigkeit noch dem Sonnenkönig in Frankreich Konkurrenz machen. Er wünschte sich ein Schloss für Wolfenbüttel ähnlich dem in Versailles, so Sandra Donner: „Das Schloss war deshalb so besonders, weil es das erste Sammlungsschloss war. Herzog Anton Ulrich war ein Kunstliebhaber und Sammler und suchte einen adäquaten Platz für seine Gemäldegalerie. Dann waren noch die Gärten ganz berühmt. Friedrich der Große hat in ihnen geheiratet und diese Idee mit nach Potsdam, nach Sanssouci genommen und diese Gärten mit Terrassen und besonderen Wasserspielen waren damals schon einzigartig.“

Versailles aus Holz von Salzdahlum

Doch dem schöngeistigen Herzog ging auf halbem Wege das Geld aus. Er ließ sein Versailles kurzerhand aus Holz errichten. Wassergrotte, Wandelhalle und sogar die Gartenstruktur wurden aus Holz gebaut und so angemalt, dass es nach Marmor, Gold und Silber aussah. Der aufgesetzte Prunk hielt der Witterung nicht lange stand und verfiel bis zu seinem Abriss. Die Kunstwerke jedoch bilden den Grundstock für eine der bedeutendsten Kunstsammlungen Deutschlands: Die rund 4.000 Werke aus 3.000 Jahren Kunstgeschichte sind noch heute im Anton-Ulrich-Museum in der Nachbarstadt Braunschweig zu bestaunen: Arbeiten von Picasso, Rembrandt, Rubens und Dürer.

Gruft der Welfen in der Hauptkirche Beatae Mariae Virginis, eine protestantische Marienkirche. Hier der wuchtigen Doppelsarkophag Herzog Anton Ulrichs und seiner Gemahlin aus Zinn

Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt: 526 Menschen mit dem Fallbeil hingerichtet
An der Justizvollzugsanstalt, der JVA, kommt in Wolfenbüttel niemand vorbei – wortwörtlich. Schon seit dem 18. Jahrhundert ist das Gefängnis zentral an der Hauptstraße gelegen. Heute überblicken ihre teils historischen Gebäude die Gassen der Fußgängerzone. Unter den Nazis wurden hier mitten in der Innenstadt 526 Menschen mit dem Fallbeil hingerichtet. So auch die 19-jährige Erna Wazinski, der Plünderung nach einem Bombenangriff vorgeworfen wurde. Ein Sondergericht hatte auch in ihrem Fall die Höchststrafe verhängt, so Martina Staats, Leiterin der Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt: „Man mag es nicht glauben, sie hatte Lippenstift genommen , und die Tatsache, dass sie eine Freundin hatte, die schon aktenkundig war wegen einer Abtreibung und weil Erna Wazinski nicht aus einer guten bürgerlichen Familie kam, sondern zum Teil in Kinderheimen aufgewachsen ist. Das wurde im Urteil strafverschärfend ausgelegt, dass sie mit der Todesstrafe bestraft worden ist.“

Ein bedrückender Ort der Geschichte Wolfenbüttels. Er liegt innerhalb der JVA – „Background-Check“, Sicherheitsschleusen und die Begleitung durch einen ausgebildeten Pädagogen sind obligatorisch. Denn das Gefängnis ist weiterhin in Betrieb, hat fast 240 Insassen, im Herzen der Stadt, gegen das es sechs Meter hohe Mauern in alle Richtungen abschirmen. Und alle paar Monate weht durch die Gitterstäbe ein würzig-kräutrig-ätherischer Geruch. Keine 200 Meter von den Gefängnismauern wird der größte Exportschlager der kleinen Gemeinde hergestellt: Der Jägermeister.

Weltberühmtes aus der niedersächsischen Provinz: Der Jägermeister

Das Logo der Spirituose ist mittlerweile zu einer Weltmarke geworden. In fast jedem Land der Erde steht der gereckte Hirschkopf mit leuchtendem Kreuz zwischen dem Geweih auf der eckigen, dunkelgrünen Flasche für deutsche Trink-Kultur: Der Jägermeister – ein etwas dickflüssiger, bräunlicher Halbbitter-Likör, wird in Holzfässern gelagert. In der modernen Zentrale, fast in Rufweite vom Gefängnis. Der Geruch, der alle paar Monate die Innenstadt erfüllt, kommt hierher…

„Hier lagert der Grundstoff“, erklärt Elke Keese, in weißem Kittel und mit Haarnetz, vor den vier Meter hohen Eichenfässern. „Der hat deutlich mehr Alkoholprozent als der Jägermeister, nämlich 52 Volumenprozent. Und während der langen Reifezeit von einem Jahr verdunstet natürlich auch etwas. Was Sie hier reichen ist zum einen der Holzgeruch und dann der Geruch nach Alkohol aus dem Grundstoff.“

Elke Keese in der Fabrik des Jägermeister

56 natürliche Zutaten gehen in den Grundstoff ein. Ein Rezept, das bis heute geheim gehalten wird. Die Menschen in Wolfenbüttel gelten allgemeinhin als bodenständig und erdverwachsen. Trotzdem kommt der „Hörner-Whiskey“, wie manche ihn etwas spöttisch nennen, weltweit gut an. Schon früh entwickelte Curt Mast aufsehenerregende Konzepte. Beispielsweise hat er die Werbung auf Fußballer-Trikots erfunden und gegen den Widerstand des DFB durchgesetzt: 1973 liefen die Spieler der „Braunschweiger Eintracht“ erstmals mit dem Hirschkopf mit Kreuz auf den Platz. Was Messi und Co heute gegen Millionenbeträge auf der Brust tragen, hat sein Vorbild in der Jägermeister-Werbung. Von rund 1000 Mitarbeitern bietet Jägermeister 450 einen sicheren Arbeitsplatz in Wolfenbüttel. Von hier aus tragen 112 Millionen 0,7-Liter-Flaschen jährlich den Hubertushirsch und den Namen Wolfenbüttel in die Welt.

Bibliothek und Jägermeister – Geist im Buch und in der Flasche
Die unscheinbare Mittelstadt in der niedersächsischen Provinz öffnet sich dem Besucher nur Stück für Stück, offenbart dann aber ihren Charme umso intensiver. Oder wie es Sandra Donner, die Leiterin der historischen Museen formuliert: „Für mich gibt es zwei „Global Player“ bis heute hier: die Herzog-August-Bibliothek feiert ihr 450-jähriges Jubiläum. Heute noch eine wichtige Forschungs-Bibliothek. Und den „Global Player“ Jägermeister hier vor Ort. Geist also in zweierlei Ausführungen: einmal in der Flasche und einmal in den Büchern. Ich finde, dazwischen kann sich Wolfenbüttel wunderbar positionieren!