Thomas H. A. Becker

Von Ponys, Pies und Alice im Wunderland

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Der New Forest im Süden Englands – ursprüngliche Natur 15 Minuten vor Southampton

Nur eine Viertelstunde Fahrt von der Hafenmetropole Southampton entfernt, links von der Autobahn, zeigt ein Schild in Richtung Lydhurst. Schlagartig verändern sich Landschaft und Stimmung hier an der Kanalküste im Süden Englands: Eine Mischung aus Weide- und Heidelandschaft und sattgrünem Wald. Freilaufende, grasende Ponys, Esel und Kühe nur wenige Meter hinter der Autobahn, Luftlinie lediglich 10 Meilen von einem der größten Industriehafen Englands entfernt.

Ursprüngliche Gestalt seit den Zeiten Wilhelm des Eroberers

Es braucht nicht lange, bis die ersten und wohl berühmtesten Bewohner zu sehen sind: Die New Forest Ponys. Es sind wilde Ponys, die frei herumlaufen können. Rund 5000 bevölkern den Forest. Sie haben allerdings einen Besitzer, der sich um sie kümmert, den „Commoner“. Der hat das Recht, Ponys und Rinder das ganze Jahr über auf der offenen Waldfläche weiden zu lassen.
Das trägt dazu bei, dass die Kulturlandschaft und ihre Tiere in ihrer ursprünglichen Form erhalten bleiben. Die uralte Tradition, die in Deutschland auch Allmende genannt wird, geht noch auf die Zeit vor Wilhelm dem Eroberer zurück. Der machte nach seiner Eroberung 1066 dieses Gebiet zu seinem privaten Jagdrevier und legte den Einheimischen strenge Gesetze auf.

Ein Ausschnitt aus dem Teppich von Bayeux, der die Schlacht bei Hastings 1066 zeigt

Im Gegenzug erhielten die Einheimischen das verbriefte Recht, ihre Tiere weiden zu lassen. Die Straße kurvig, fast labyrinthig, muss sich gegen Bäumen und dichte Sträucher durchsetzen, zwängt sich durch enge, charmante Dorfstraßen mit reetgedeckten Häuschen. Es ist nicht einfach, sich im New Forest mit seinen mäandernden Sträßchen zurechtzufinden. Und auch der Name führt zunächst in die Irre…. Angus ist zuständig für das Archiv im Heritage Centre in Lydhurst, der heimlichen Hauptstadt des New Forest im Herzen des Waldgebietes. Er erklärt, woher der Name kommt:

Lyndhurst: Hier lebte das Vorbild für Alice im Wunderland

Die Ursprünglichkeit und Nähe zur Natur hat die Fantasie vieler Bewohner beflügelt. Dazu trägt bei, dass hier die wohl bekannteste Figur des literarischen Nonsens begraben liegt. Angus nimmt mich mit hinter die Kirche St. Michael and All Angels. Er bleibt vor einem flachen, bescheiden mit Gras und Rosen bewachsenen Grab stehen: „Wir stehen vor dem Grab von Alice Hargreaves, so hieß sie als sie starb, geboren wurde sie als Alice Liddlle. Aber wir kennen sie alle als Alice im Wunderland. Geboren ist sie in Oxford, aber ihr Mann lebte nicht weit entfernt, von wo wir hier stehen, in der Nähe von Lyndhurst. Als sie starb wurde sie hier begraben und in der Kirche hinter uns sind auch die Gedenkplatten für ihre einzigen beiden Söhne, die im ersten Weltkrieg umgekommen sind. Ihr Gedenken wird hier sehr hochgehalten. Ein besonderer Ort“, sagt Angus noch. Und ich kann nur zustimmen.

„Geboren wurde sie als Alice Liddlle. Aber wir alle kennen sie unter einem anderen Namen...“

Angus am Grab von „Alice im Wunderland“

Hexen verfluchen Adolf Hitler – und die Stadt bleibt unversehrt

Neben den literarischen Produkten wie Alice im Wunderland ist der New Forest voll von Geschichten von Hexen und paranormalen Phänomenen. Angus bleibt bei der Führung durch sein Museum vor einer Glasvitrine stehen: „Wir sehen hier die Überreste einer deutschen Bombe, die auf Lydhurst abgeworfen wurde. In unserer Tradition haben wir was man Hexen nennen würde und kurz bevor diese Bombe hier abgeworfen wurde, gab es eine Versammlung in den Wäldern. So ein Zusammenkommen von Hexen nennt man „Cone of power“ dabei haben sie einen regelrechten Fluch über Adolf Hitler ausgesprochen, in dem sie mit großem Unglück drohten, sollte er dieses Gebiet bombardieren. Nur wenige Bomben wurden während des Krieges überhaupt über der Stadt abgeworfen, keine davon explodierte, diese hier landete in einem Geschäft auf der Highstreet. Aber niemand kam zu Schaden. Die Hexen natürlich sagten, das läge an dem Fluch, den sie ausgesprochen hatten.“

Angus vor einer Bombe, die auf Lyndhurst abgeworfen wurde, allerdings keinen Schaden anrichtete

Geisterhäuser, ein toter König und Schweinepastete
Der New Forest – weder ein neuer noch ein besonders dichter Wald. Er hat nichts Düsteres, wird von Heide- und Weidelandschaft und Buschflächen aufgelockert und gibt oft den Blick auf den Horizont frei. Und für den rastenden Wanderer oder Radfahrer duckt sich in jedem kleinen Dorf auch ein Pub unter einen schattigen Kastanienbaum. Eine Gegend mit viel Geschichte und Geschichten. Die hört man in den Gasthäusern, wie im Pub von Duane, „The Trusty Servant Inn“ in Minstead:

Duane, Besitzer von Pubs wie „The Trusty Servant Inn“

Spezialität seit 100 Jahren: Pannaged pig

Sein Pub ist bekannt für die fleischgefüllten Pasteten, die mit einer schweren braunen Soße und Chips – Pommes Frites – serviert werden. Und dazu natürlich ein Ale. Doch die besondere Spezialität des Waldes ist das „Pannaged pig“, das es nur bis zum Jahreswechsel gibt. Der New Forest Pannage-Schinken wird aus Schweinen hergestellt, die durch „Pannaging“ gefüttert wurden, bei dem die Tiere im Forest auf die Suche nach wilden Eicheln geschickt werden. Mit dieser Methode wird ein köstlicher Schinken mit einzigartigem Geschmack hergestellt, der in der Region seit fast 1000 Jahren vorkommt, erklärt Duane:

Duane erklärt das bekannte Pannaged pig. Hier geht´s zur Internetseite des Pubs.

König Rufus
Wilhelm II., genannt William Rufus, der Sohn von dem Eroberer, war von 1087 bis zu seinem Tod König von England. Der Beiname Rufus bedeutet „mit den roten Haaren“ oder „mit den roten Wangen“. Obwohl Wilhelm ein erfolgreicher Soldat war, war er andererseits auch ein rücksichtsloser Herrscher und bei seinen Untertanen sehr unbeliebt. Die Angelsächsische Chronik berichtet, dass er „von fast allen Untertanen gehasst wurde“. Angeblich wurde er absichtlich bei der Jagd getötet. Jedenfalls traf ein Pfeil ihn statt des Hirsches. Und das ganz in der Nähe vom „The Trusty Servant Inn“. Deshalb hat der Pub auch seine beliebteste Pastete nach dem getöteten König benannt.

Nur wenige Meilen westlich der Hafenmetropole Southampton beginnt der verschlafene New Forest. Direkt gegenüber der Isle of Wight. Quelle: Google maps

Fudge und Hexen in Burley

Wer nach der kräftigen Pastete und den gruseligen Geschichten etwas Süßes gebrauchen kann, sollte nur wenige Minuten die Straße runterfahren nach Burley. Doch zu dem sinnlichen Genuss kommt auch hier das Übersinnliche. Burley ist bekannt für seinen Fudge – und seine Hexen…

Chris in seiner Fudge-Küche hinter seinem Verkaufsraum

Burley ist im New Forest bekannt als das Hexendorf. Hier lebte Sybil Leek. Bevor sie in den 1960er Jahren in die USA auswanderte, gab sie einem Laden in Burley den Namen „A Coven of Witches“, zu Deutsch der Hexenzirkel, in dem noch heute allerlei Okkultes und Kleinkram verkauft wird. Hier wird sie immer noch sehr verehrt. Ihr Porträt in Schwarzweiß hängt an der Wand und zeigt eine freundliche aber bestimmte, rundliche Dame in besten Jahren mit wallendem Umhang und einem Vogel auf der Schulter.

„1955 war sie die erste, die sich outete und sagte, dass sie eine weiße Hexe sei. Das mochten die Dorfbewohner gar nicht“, erklärt der heutige Besitzer des Geschäftes, Alan, über Sybil Leek, die Hexe aus dem New Forest. „Das ist ein sehr christlich geprägtes Dorf, die Kirche hat hier viel Einfluss. Deshalb ist sie dann 1962 nach Amerika geflüchtet. Dort hatte sie eine Fernsehshow, wurde bekannt mir Jack Kennedy und Ronald Reagan. 1982 starb sie, heute gibt es ein Museum über sie in Florida.“

Eine Ecke des vollgestopften Geschäftes ist für den sympathische Rudi und seine Dienste reserviert. „Hexerei wird in meiner Familie schon viele Jahre praktiziert“, sagt er. Er liest im Coven of witches aus der Hand. Viel Zeit für eine Unterhaltung hat er allerdings nicht, denn die Kunden stehen Schlange bei ihm.

Der heutige Besitzer des Geschäftes, Alan, über Sybil Leek, die Hexe aus dem New Forest

Hexerei wird in meiner Familie schon viele Jahre praktiziert“, sagt Rudi, der Hellseher im Coven of witches

Rudi, der Hellseher und Handleser im „Coven of witches“ über seine Berufung

Von der Kanalküste….

..über sanfte Heidelandschaft …

bis hin zu purem Chrom. Hier der Rolls-Royes 40/50p Silver Ghost von 1909 im Automuseum von Beaulieux. Der New Forrest bietet viel Abwechslung auf kleinem Raum.

Flugplatz: D-Day und Kriegsauswirkungen

Wegen der Nähe zum europäischen Festland wurde dem New Forest auch in jüngster Geschichte eine wichtige Rolle zuteil. Hier wurden besonders viele Flugplätze für die Attacken auf und die Verteidigung gegen Nazi-Deutschland errichtet. Mit der Geschichte der Flugplätze beschäftigt sich Steve, ein Hüne mit schlohweißem Vollbart, der mit erstaunlich geschickten Fingern auf einem hochmodernen Computertisch mit der Landkarte des New Forest flink jeden der fünf Flugplätze hintereinander anklickt. Alte Fotos erscheinen auf dem großen Bildschirm, Scans von Originaldokumenten und sogar eine 3-D Animation, die der spendenfinanzierte Verein mit rund 100 Mitgliedern in Auftrag gegeben hat.

Steve stellt seinen Verein vor

„Was dieser Mann erlebt hat, wollen Sie im Leben nicht durchmachen.“

Steve vor der Originaluniform von Sqn. Ldr. Stanley Booker

Auch wenn manche der Flugplätze nur wenige Wochen in Betrieb waren, bevor sie nach der Landung der Alliierten abgebaut und nach Festlandeuropa verlegt wurden, die Militäreinrichtungen stießen – selbst in Kriegszeiten – bei den traditionsbewussten und etwas eigensinnigen Bewohnern des New Forest auf viel Widerstand, erzählt Steve: „Es geht hier nicht nur um die Luftwaffe, sondern das Militär insgesamt, die Soldaten und natürlich die Marine an der Küste. Das liegt an unserer Lebensweise, unserer Tradition: Es gibt keine Zäune im New Forest! Als die Landebahnen kamen, waren das die einzigen Hindernisse für unsere Tiere. Es hat sehr viel Arbeit gekostet, gegen den Widerstand der Menschen, in den New Forest überhaupt irgendwie einzugreifen.“

Steve zum problematischen Bau der Flugplätze

Und diese Beständigkeit und Beharrungsfähigkeit der freundlichen, aber auch etwas eigenbrötlerischen Bewohners des New Forest hat dazu beigetragen, dass man noch heute den Wald in seiner fast ursprünglichen Form erleben kann. Überraschend nah an der Hafenstadt Southampton mit rund einer Viertel Millionen Einwohnern und lediglich zwei Stunden per Zug aus dem Zentrum des quirligen London: ursprüngliche Natur mit sattem, grünem Wald: der New Forest im Süden Englands bietet angenehm zurückhaltend eine außergewöhnliche Vielfalt.

„Friends for the New Forest Airfield“ im Netz: https://fonfa.co.uk/