Auf Spurensuche in der vergessenen Inka-Stadt
Es ist einer der erfolgreichsten Comics der Welt und Tim der Held ganzer Generationen von Kindern. Auch für mich waren Tim und Struppi immer gute Freunde und treue Begleiter. Möglicherweise haben genau die beiden mit ihren Abenteuern in aller Welt mein Fernweh geweckt. Sie jagen Verbrecher im Nahen Osten, in den USA, China und Afrika. Schon lange träumte ich davon, nach Peru zu reisen und das geheimnisvolle Machu Picchu kennenzulernen. Ein magischer Ort, den ich als Kind durch Tim und Struppi kennengelernt habe. Eine persönliche Spurensuche.
Meine erste Begegnung mit Moscheen, Muhezin-Rufen und Wüsten hatte ich mit 6 Jahren, als die beiden dort Verbrecher jagten. Die Höhen des Himalaya habe ich mit ihnen gemeinsam erklommen und bin zum ersten Mal mit ihnen durch den Regenwald und die Anden gewandert, um ihren verschollenen Freund zu finden. … und nun, mit über 40 Jahren, bin ich auf dem Weg, mit meinem Tim und Stuppi-Heft im Rucksack, Machu Picchu kennenzulernen. Die geheimnisvolle Inka-Stadt tief in den Anden Perus.
Meine Anreise ist fast so kompliziert wie die von Tintín. Bei der Suche nach seinem Freund muss er Wüste, Berge und eine Bahnfahrt mit Mordanschlag überwinden. Ich muss mich durch einen Dschungel von Anreisemöglichkeiten kämpfen: Machu Picchu liegt noch heute sehr versteckt und sehr weit weg – von eigentlich allem. Obwohl per Luftlinie nur 500 Kilometer von der Hauptstadt Lima entfernt, dauert eine Busfahrt durch die Berge mehr als 20 Stunden. Per Flugzeug gelangt man lediglich bis nach Cusco, der Hauptstadt des ehemaligen Incareiches. Hier startet also meine Expedition, 80 Kilometer von Machu Picchu entfernt.
Spanische Eroberung
1532 landet Franzisco Pizzaro an der heutigen peruanischen Küste und begann sogleich seinen Krieg gegen die Inka. Cusco erobert er schon ein Jahr später. Auch der Inka-König Pachacutec lebte hier bis 1471 und gab wahrscheinlich den Auftrag, die Festung Machu Picchu als Sommerresidenz zu bauen.
500 Jahre war Cusco die Hauptstadt der Inka. Und das kann man buchstäblich an jeder Ecke sehen, sagt mein Taxifahrer Miguel, der hier geboren ist: „Das ist alles auf einer Inka-Stadt gebaut. Sehen Sie sich die Mauern an: Die Inka sind alle verschwunden, aber ihre Mauern und Steine haben überdauert. Mit denen haben die Spanier ihre Häuser gebaut. Das macht Cusco zu dieser einzigartigen Kolonialstadt. Diese Straße heißt nach dem heiligen Augustin, von dieser Ecke nach da unten sehen sie extrem viele Inka-Überreste. Auch haben wir den Stein der 12-Ecken, er ist einmalig in der Welt.“
Machu Picchu ist nur per Zug über Aguas Calientes zu erreichen, es sei denn, man will wandern. Nach ihrer Erbauung durch Pachacútec Mitte des 15. Jahrhunderts, wurde sie schon 100 Jahre später aufgegeben. Warum, weiß man nicht. Nicht einmal die Spanier haben Machu Picchu auf ihren zerstörerischen Raubzügen entdeckt. Es liegt in den Bergen auf 2400 Metern. Die moderne Welt hat überhaupt erst 1911 von ihrer Existenz erfahren. Ein US-amerikanischer Abendteurer der Yale University hatte sie entdeckte und ist mit seiner Geschichte und den geraubten Funden reich geworden.
„Entdecker“ Hiram Bingham
Auch deshalb ist Hiram Bingham heute sehr umstritten, erzählt sein 63jähriger Landsmann Dave Richards auf der holprigen Zugfahrt nach Aguas Calientes: „Er ist damals nach Peru gekommen, um die sagenumwobene letzte Inka-Stadt zu suchen. Für mich ist es immer etwas schwierig, von ihm als Entdecker zu sprechen. Denn dort oben haben damals ja immerhin drei Familien gelebt und gearbeitet, die ihm die Stadt gezeigt haben. Also ein eigentlicher Entdecker war er nicht. Das Gute ist, viele Gegenstände wurden gesichert und erhalten. Andererseits hat er die Dinge in die USA gebracht und die gehören ja eigentlich den Peruanern! Ich bin froh, dass sie die bald alle zurückgeben werden.“
„Ich bin froh, dass sie die Schätze bald alle zurückgeben werden.“
Dave Richards (63) über die geplante Rückgabe der Artefakte an Peru
Ein Großteil der Artefakte sind mittlerweile von der Yale University an Peru zurückgegeben worden. Die Fotos, die Bingham 1911 machte, gingen um die Welt – lediglich 30 Jahre bevor Hergé in seiner belgischen Heimat die Geschichte gezeichnet hat, erfuhr die Welt überhaupt von der geheimnisvollen Inkastadt.
1000 Bewohner in der Sommerfrische der Inkas
Die Stadt wurde von ungefähr 1000 Menschen bewohnt. Der bekannteste Teil, das Postkartenmotiv, zeigt lediglich den Bereich der religiösen Stätten und des Wohnens rund 500 Meter lang und 3 Fußballfelder breit– mit den typischen, meist einstöckigen Häusern mit ihren trapezförmigen Tür- und Fensteröffnungen. In meinem Tim und Struppi Heft sieht man einen Mann mit goldener Krone und kostbarem Umhang in genau solchen Bauten stehen, sagt Vladimir, der mich durch die Anlage führ: „Hier in der Zeichnung haben wir den „Sapa Inka“. Das bedeutet, den ersten Inka, den Führer der Gemeinschaft. Quasi der König der Inkas. Er wird auch Inti Churin, „Sohn der Sonne“ genannt. Und die Kleidung, die er hier im Heft trägt, entspricht dem Original ganz gut: der Umhang ist aus dem damals teuersten Stoff der Welt gemacht. Aus dem Fell der Alpakas oder der Vicuña. Das war ein Zeichen für seine Göttlichkeit, der Sapa Inka war praktisch aus einer anderen Welt. Und er kam hierher nach Machu Picchu, um sich auszuruhen. Es war quasi seine Sommer-Residenz.“
Mumienkult und Jungfrauen
Ich zeige Vladimir auch die anderen Zeichnungen in meinem Tim und Struppi-Heft und er erkennt noch weitere Ähnlichkeiten. Beispielsweise die Mumie, deren Armreif Professor Bienlein stiehlt und wegen der er auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden soll: Sie ist sehr gut den Originalen nachempfunden. Die Toten sind Teil des täglichen Lebens. Wichtigen Personen wurden mumifiziert und nahmen teils in Mauernischen der Wohnhäuser oder bei Festen auch als Tote am gesellschaftlichen Leben teil: „Die Mumien waren sehr wichtig. Die Eingeweide wurden den Toten entfernt, das Gehirn durch die Nase herausgezogen. Dann hat man sie in eine fötale Position gebracht, wie im Mutterleib sitzen die Mumien mit überkreuzten Armen, genau so wie wir es hier in der Zeichnung sehen.“
„Manche europäischen Bücher behandeln die Inka immer noch, als wären sie ignorant gewesen“
Geschichts-Student Alexander
Der Sonnenkult
Am Ende werden Tim und seine Gefährten vor dem Scheiterhaufen durch eine Sonnenfinsternis gerettet. Tim erfährt durch einen Zeitungsartikel von der bevorstehenden Eklipse. Am Tag der geplanten Hinrichtung werden die Inka davon überrascht, dass Tim die Sonne anruft, sich zu verdunkeln und gestehen ihm daraufhin göttliche Kräfte zu. Das allerdings, ist aus der Sicht der Inka-Experten ein sehr großer Faux-Pax, sagt Geschichts-Student Alexander sehr ernst: „Der Inka Pachacute hatte großes Wissen über die Gestirne und natürlich kannten die Inka Sonnenfinsternis! Natürlich kannten sie sie nicht unter den wissenschaftlichen Namen wie wir heute. Die Chroniken sprechen aber deutlich von dem kosmopolitischen Wissen der andinen Bevölkerung seit Pachacute. Manche europäischen Bücher behandeln die Inka immer noch, als wären sie ignorant gewesen. Aber Sapa Inka bedeutet, der wissende König. Schon die früheren europäischen Chroniken stellen einige Dinge einfach nicht richtig dar. Und so hat sich Hergé zu Gunsten der Story von der realen Geschichte der Inka entfernt, auch wenn er sonst nah den dem bleibt, was wir über diese untergegangene Kultur wissen.